Das menschliche Gehirn ist schon seltsam. Meins jedenfalls. Neulich las ich einen spannenden neuen Krimi, und als ich ihn ins Regal stellen wollte, da stand er schon drin. Wahrscheinlich habe ich ihn vor ein oder zwei Jahren schon mal gelesen. Doch offen gestanden: Keine einzige Silbe davon kam mir bekannt vor! Das mag zwar finanzielle Vorteile haben, weil man ein Leben lang mit einer Handvoll Büchern auskommen könnte, irritiert mich aber andererseits ungemein. Denn rein statistisch gesehen müssten doch noch Abertausende von Gehirnzellen frei sein für neue Informationen! Was mich aber noch viel mehr bekümmert: Warum kann ich mir aktuelle Dinge (wo liegt der Autoschlüssel?) nicht merken, während eine Reihe vollkommen unwichtiger Fakten für alle Zeiten in meine grauen Zellen eingebrannt sind? Hier eine Liste der unerheblichen Informationen, die ich wohl nie vergessen werde: Die ersten Sätze in meiner Erstklässerfibel (Kuchen, Papa, Ranzen), die vierstellige Postleitzahl im Ort meiner Kindheit (6589), die Längenmaßeinheit im „Kurier des Zaren“ (Werst), die Seitenzahl des „Apfelkuchens sehr fein“ im Dr.-Oetker-Backbuch (32), irgendwelche Ohm’schen Gesetze (R gleich U durch I), das Wahldatum nach Kohls konstruktivem Misstrauensvotum (6. März 1983), den Titel meiner ersten Single (Suzie Quatro, „If you can’t give me love“), einzelne Sätze aus den „Buddenbrocks“ („Dieser Blumenflor putzt ganz ungemein“) und andere Kinkerlitzchen mehr. Im schlimmsten Fall ist es der ganz normale Alterungsprozess („von früher weiß sie noch alles, aber das Kurzzeitgedächtnis …“), im besten ein gepflegtes chaotisches Halbwissen, das man beim Texten ganz herrlich zu einem kreativen Süppchen verrühren kann. Nein, im schlimmsten ist es das, was einem im allerletzten Stündlein wie ein Film am inneren Auge vorbeizieht – und im allerbesten die entscheidende Mischung an Wissen, das einem beim Fernsehquiz eines Tages die Million einbringt … Träumen darf man ja.
Broken Spirits
Nun, vielleicht hast Du den Krimi ja auch ungelesen ins Regal gestellt?
Wobei es das nicht besser macht: zwischen „Vergessen, daß man ein Buch gelesen bereits hat“ oder „Vergessen, daß man das Buch bereits besitzt“ ist im Endeffekt minimal.
Auf jeden Fall bleibt das Leben spannend: ich wünsche Dir noch viele Neuentdeckungen, neue (alte) Freundschaften usw :-P
(bei mir fängts langsam auch an… :-( )
AbidiText
Vergessen, dass man ein Buch bereits besitzt, ist nicht ganz so schlimm. So einen Buchtitel kann man mal vergessen. Aber den Inhalt? Und wie schlimm ist es, wenn man vergessen hat, ob man ein Buch einfach ungelesen ins Regal gestellt oder tatsächlich gelesen hat? Ach, ach …
Aber der Spannungs-Aspekt ist tatsächlich tröstlich. Wie aufregend, seine liebe Familie jeden Tag aufs Neue kennenzulernen!
Tanja Finke-Schürmann
Hihi. Sehr schön. Kenn ich.
Auch die Reise in Deine Erinnerungsbröckchen hat Spaß gemacht.
In meinem Haus wohnt jemand, der kann ganze Spielfilme aufmerksam gucken und dann so 15 Minuten vor Schluss sagen „Das kommt mir bekannt vor. Ich glaube, ich habe den schon mal gesehen.“
BISHER ist mir sowas noch nicht passiert. Puh….
Tanja
AbidiText
Kann sein, dass mir das bei Filmen auch schon mal passiert ist. Allerdings kann ich mich nicht dran erinnern … :-)
Maid
Das ist doch ganz einfach – was man hatte man sich denn schon an Infos zu merken, bei uns nicht mal Telefonnummern, denn es hatte ja niemand Telefon, von zusätzlichen Handynummern, Emailadressen oder gar Abidiblogs mal ganz abgesehen. ;-)
In der Kindheit und frühen Jugend konnte das Hirn seine Infos noch ganz in Ruhe und an exponierten Stellen ablegen und hatte vermutlich Zeit, diese Infos so tief einzumeißeln, dass sie uns für immer begleiten.
Mein litererischer Satz ist übrigens aus Effie Briest: „Die ist uns über“ und die PLZ war 2911, der erste russische Satz war wohl Eto Doska (Das ist die Tafel – ich glaube es ist der einzige, den ich noch heute fehlerfrei aufsagen kann…), die Goldene Bulle verbindet sich untrennbar mit 1356 und Spargel sticht man nur bis Johanni (ich habe nie ein Spargelfeld besessen!).
Um welchen Krimi ging es eigentlich?
AbidiText
Was für eine Beruhigung – ich bin nicht allein mit diesem Phänomen! Aber zu deiner Frage, Maid: Welcher Krimi das war? Müsste ich nachsehen gehen. Ein finnischer. Den Titel habe ich natürlich vergessen …
Edith Nebel
Das Erlebnis, Krimis in den unendlichen Weiten meiner Regale zu finden, von denen ich schwören könnte, dass ich sie noch nie im Leben gesehen, geschweige denn gekauft oder gar gelesen habe, hab ich alle Jahre wieder, wenn ich Großputz mache und alle Schmöker einzeln in die Hand nehme.
Da der Gatte aber maximal Fachbücher zu technischen Themen kauft und die Bücher eindeutig gelesen waren, muss wohl doch ich das gewesen sein. Manchmal kommt mir dann doch irgendwann eine Szene bekannt vor.
Aber ich weiß auch noch die Telefonnummern meiner Schulfreundinnen und von Bekannten und Verwandten, die seit über 20 Jahren tot sind, kann Nummern längst erloschener Konten herunterrasseln und erinnere mich an das KFZ-Kennzeichen unseres VW Käfers von 1965. Das von unserem Golf jetzt weiß ich aber nicht. Und meine Handynummer hat mir der Mann aufgeschrieben, die würde ich nicht mal wiedererkennen, wenn ich sie wo sähe.
AbidiText
Du auch, Edith? Das mit den Autokennzeichen geht mir genauso. Die der Autos meiner Eltern kann ich auch runterbeten. Wenn ich im Autohaus nach meinem aktuellen gefragt werde, muss ich kurz rausehen und auf dem Parkplatz nachsehen …
Edith Nebel
Ich erkläre mir das auch damit, dass ich mir im Job heute tausende von Nummern merken muss. Jedes Materialteil, das ich betexte, hat eine. Und alle stecken sie in virtuellen Auftragstaschen, von denen auch wieder jede eine Nummer hat. Und damit gehe ich tagaus, tagein um. Bei mir gehen Massen über den Tisch. Da kommt was zusammen. Deswegen ist für Auto-, Telefon- und sonstiges Nummerngedöns einfach keine Kapazität mehr frei.
Das gleiche gilt für Bücher. Was ich als Verlagswesen alles so verkonsumiere, ist nicht mehr feierlich. Da kann ich mir nicht alles merken, was ich irgendwann mal gelesen habe.
AbidiText
Das entspricht in etwa meiner Theorie. Was auch erklärt, warum ich mich an Aufträge, die erst wenige Wochen zurückliegen, manchmal kaum erinnern kann. Da brauche ich Bedenkzeit – das Thema ist dann einfach nicht im aktuellen Arbeitsspeicher, sondern in den Teilen meines Gehirns, die als Lagerhallen verwendet werden … Und bis man dort was gefunden hat, das kann dauern.