Es war einmal ein Land, in dem lebten die Menschen ziemlich glücklich und zufrieden. Jedenfalls die meisten von ihnen. Einige von ihnen waren etwas weniger zufrieden. Im Gegenteil: Sie sahen an allen Ecken und Enden gewaltigen Verbesserungsbedarf. Deshalb betätigten sie sich als leidenschaftliche Bedenkenträger. Weil aber das Denken so anstrengend ist, lachte man sie lieber aus und nannte sie „Hofnarren“. Wo andere Gesottenes und Gebratenes auftischten und das Leben genossen, warnten die Bedenkenträger vor Cholesterin und BSE und Genveränderungen. Und im Sommer, wenn die Lebenskünstler am Strand lungerten und eine „gesunde Farbe“ bekamen, klagten sie über Ozonwerte und gefährliche Strahlen.
Doch dann kam der Winter, und da froren selbst die Bedenkenträger. Beziehungsweise würden sie frieren, wenn es die Drachen nicht gäbe. Sie lebten über das ganze Land verteilt in dunklen Höhlen und spuckten regelmäßig gerade so viel Feuer, wie man brauchte, um es hell und freundlich und angenehm warm zu haben.
Natürlich wiesen die Bedenkenträger seit Jahrzehnten darauf hin, dass diese Drachen wild und gefährlich waren. Eigentlich. Sie raunten, man könne sich doch nicht ernsthaft darauf verlassen konnte, dass diese Ungeheuer ewig gesund blieben. Eines Tages bekämen sie gewiss einen deftigen Drachenhusten und könnten dabei alles niederbrennen. Theoretisch jedenfalls. Unter den Hofnarren gab mehr als nur einen nachdenklichen Ritter, der die Drachen lieber gestern als morgen zur Strecke bringen wollte! Ernsthaft. Doch die Kreuzkönigin beruhigte das Volk und die Ritter. Die Drachen seien putzmunter, beteuerte sie. Jedenalls nach allem, was man wusste. Und überhaupt seien nur die uralten Drachen aus grauer Vorzeit gefährlich – nicht die jung-dynamischen Drachen hierzulande!
Die Kreuzkönigin und ihre schwarzen Ritter waren generell ziemlich gut darin, ihr Volk zu beruhigen. Worüber auch immer die Bedenkenträger jammerten, sie riet ihnen stets, zunächst einmal abzuwarten. Und weil das Abwarten so langweilig war, redeten bald alle von einem anderen Thema, zu dem die Kreuzkönigin dann wieder empfahl, erst einmal abzuwarten …
Doch dann, kurz bevor in einigen Teilen des Drachenreiches das Volk neue Ritter für ihre Tafelrunde auswählen sollte, geschah im fernen Land der Morgenröte ein furchtbares Unglück. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, reizte dieses Unglück sämtliche Drachen in diesem Land: Sie wurden schrecklich aggressiv, fauchten Feuer und spuckten Gift und machten das Land fast unbewohnbar!
Das blieb auch im Land der Kreuzkönigin nicht verborgen – die Bänkelsänger berichteten in ihren Moritaten von nichts anderem. Und die Bedenkenträger bald auch nicht. Diesmal überzeugten sie sogar ihre Mitmenschen, die sie sonst nur belächelten. Entgegen aller Prognosen hatten diesmal die nachdenklichen Ritter beste Aussichten, in die Tafelrunde gewählt zu werden. Dann würden sie die Drachen verjagen und der Kreuzkönigin einen Strich durch die Heizungsrechnung machen.
Was tun? Nun, was wohl: Die Kreuzkönigin tat, was sie immer tat: Sie rief auf, abzuwarten. „Unsere Drachen sind wahrscheinlich bestimmt ziemlich sicher wohl kerngesund“, dachte sie, „und das werden die Menschen auch bald wieder glauben. Nach ein paar Wochen. Nach der Ritterwahl.“ Sie musste sie nur ein wenig vertrösten. Damit niemand ihr vorwerfen konnte, sie täte ja gar nichts angesichts der Drachengefahr, verwendete sie schöne Begriffe, machte ein ernstes Gesicht und verständnisvolle Gesten. Außerdem versprach sie, die Drachen nochmals intensiv zu untersuchen. Und während dieser Untersuchung dürfen die Drachen kein Feuer spucken. Gar keins. Nicht mal ein bisschen. Großes Drachenehrenwort! Das war ein feiner Plan. Denn wenn ein paar Wochen ins Land gezogen waren, da war sie sicher, verlören gewiss die lästigen Bedenkenträger an Einfluss, während – ganz, wie sie es wünschte – die schwarzen Ritter gewählt würden. Bald hätten die Menschen keine Lust mehr auf Sorgen und Kälte, sodass sich alle nach der wohligen Drachenwärme zurücksehnten.
Damit niemand ihren simplen Plan durchschaute, klatschte die Kreuzkönigin in die Hände und rief: „Wir machen ein Moratorium!“ Das Volk jubelte, denn „Moratorium“ klang nach einer Mischung aus Mordsgaudi und Oratorium. Oder nach einer Ferieninsel, auf der immer die Sonne scheint. Oder nach einer legalen Droge, die einen alle Sorgen vergessen lässt.
Und weil das Ganze ja ein Märchen ist und keinerlei Ähnlichkeit zu lebenden Personen oder aktuellen Ereignissen hat, lebten alle glücklich und berauscht bis ans Ende ihrer Bedenken. Sogar die Drachen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann glühen sie noch heute.
Andrea
Da hab ich wohl eine Märchenwelle losgetreten? ;) Märchen sind manchmal eine gute Verpackung, ja.
AbidiText
Sind Märchen nicht immer modern? Vor allem, wenn es um schier unglaubliche Ereignisse geht …
Maid
Ich wollte jetzt das Märchen vom Sonnenkönig und der Windbraut erzählen, aber zuvor muss ich noch recherchieren:
Wir haben doch mal gelernt, dass Energie nicht verloren geht…oder im Umkehrschluss nicht wirklich erzeugt werden kann, sondern einfach mal eben da ist. Und so wie jede Wirkung ihre Ursache hat, hat auch jede Ursache eine Wirkung.
Wenn wir nun im großen Stil Sonnenenergie abzapfen, können wir damit die Erderwärmung stoppen? Und was ist, wenn wir dem Wind die Energie nehmen? Ändert sich dann das Klima? Oder können wir dann an der Nordsee nicht mehr surfen, weil es keine Wellen mehr gibt? Gut, ich kann auch mit Wellen nicht surfen, für das Radfahren fände ich es aber ganz praktisch, wenn es keinen Gegenwind mehr gibt.
AbidiText
Ich hab da auch eine ziemlich geniale Idee – leider wird’s wohl an der Umsetzung scheitern: Was, wenn man die Energie speichern und nutzen könnte, die bei Erdbeben freigesetzt wird? Kannst du gerne in dein Märchen noch mit einbauen …