Ich bin weit davon entfernt, den sittlich-moralischen Verfall der Gesellschaft, speziell der Jugend, nostalgisch verklärend zu beklagen. Früher war gewiss nicht alles besser. Aber etwas fehlt: Denn worüber wundert man sich heute schon noch?
In meiner Grundschule wagte es einmal ein Schüler, zu unserer Lehrerin das böse A-Wort zu sagen. Skandal! Und heute? Würde man sich wundern? Wohl kaum. Die Einteilung der Welt in „gut“ und „böse“ oder „normal“ und „seltsam“ kam uns irgendwann zwischen Einführung des Kabelfernsehens und Jahrtausendwende abhanden.
Von Draußen-nur-Kännchen zu bösen Tassen
Merkwürdig wäre es früher schon gewesen, hätte jemand einen anderen Füller als von Geha oder Pelikan benutzt, wäre ein Film von Werbung unterbrochen worden (wie taten mir die Amerikaner leid, als ich erfuhr, dass das im Land der unbegrenzten Möglichkeiten Usus ist) oder hätte sich eine Bedienung (heute: „Servicekraft“) über die eherne „Draußen-nur-Kännchen“-Regel hinweggesetzt.
Und was gibt es heute? Böse Tassen gibt es! Nein, nicht im Café, aber in der Werbung. Zum Download aufs Handy. Im Spar-Abo. Gesehen im Werbeblock eines Musiksenders. Jetzt weiß ich: Es gibt Jugendliche, die Unsummen dafür ausgeben, schlecht gezeichnete Tassenbilder auf ihr Handydisplay zu laden, die sich unter Verwendung des bösen A-Wortes beschimpfen: „Du bist ein A…“ – „Nein, du bist ein A…“ und sich dabei gegenseitig überbieten: „Immer zweima mehr wie du“.
Schock am (Themen)Abend
Das Erschütterndste: Ich sehe diesen Werbespot. Greife ich etwa zum Hörer, um sofort Freunde und Familien über diese unglaubliche subkulturelle Entwicklung zu informieren? Schaue ich aus dem Fenster, um zu prüfen, ob sich Außerirdische im Landeanflug nähern? Nein! Ich runzele höchstens die Stirn, nippe an meiner Schorle und schalte zu Arte um. Themenabend: Schönheit. So so, immer mehr Männer verdanken ihre muskulösen Oberarme, straffen Waden und beeindruckenden Brustkörbe der plastischen Chirurgie. Wozu schwitzen, wenn es Silikonkissen gibt? Ich verschlucke mich jedoch erst vor Lachen, als das starke Geschlecht bei der Heißwachsintimzonenenthaarung Schwäche zeigt. Wer hätte gedacht, dass die bösen Tassen noch zu toppen sind? Ich hätte Haus und Hof dagegen gewettet!
Ich grinse, bin wahrhaft amused. Aber wundere ich mich? Mitnichten. Dabei ist es doch so schön, sich über Skandälchen aufzuregen. Nicht die großen Unglücke, die sich in Meldungen (und dann unweigerlich in Sondersendungen mit knackigen, spielfilmtauglichen Titeln wie „Die Flut“, „Der Krieg“ oder „Der Sturm“) verwandeln, sind es, die mir im Gedächtnis haften bleiben; vielmehr ist es der Aberwitz des Lebens in meist banalen Ereignissen.
Überflieger im Kuriositätenkabinett
Was ist für Sie die absurdeste, wundersamste Nachricht der letzten Jahrzehnte? Vielleicht der in einer Zahnarztpraxis vorgetäuschte Geist „Chopper“? Ein alternder Westerndarsteller, der zum amerikanischen Präsidenten avancierte? Für mich war es eindeutig der Jugendliche, der im Miniflugzeug mutterseelenallein und vom russischen Radar unentdeckt bis nach Moskau flog, um dort auf dem Roten Platz zu landen. Darüber wurde sich noch gewundert.
Nun gut, ohne Eisernen Vorhang wäre das Ganze heute per se deutlich unspektakulärer. Aber was würde heute nach einer solchen Meldung geschehen, hätte der Wind of Change inzwischen nicht geweht?
Auch der Dschungel ist kein Wunderland
Ein Rust-Flug im 21. Jahrhundert wäre eine Top-Meldung mit allen Konsequenzen: Natürlich gäbe es zur besten Sendezeit die Sondersendung „Der Flug“.
Da sich der wagemutige Pilot zunächst noch nicht wieder auf freiem Fuß befände, müsste sich die 240-minütige Sendung mit Archivfotos baugleicher Flugzeuge, grobkörnigen Kindheitsbildern des Piloten und rührigen Statements ehemaliger Nachbarn begnügen. Wenig später würde eine mediale Diskussion über angebliche Lösegeldzahlungen der Regierung entbrennen, die der junge Mann aufgebracht zu entkräften versucht. Vorzugsweise bei Kerner und Beckmann.
Besuche bei Schmidt und Raab leiteten dann allmählich den Drift vom E- in den U-Sektor ein. Der politische Aspekt verschwände spätestens, wenn der neue Medienstar mit Dieter Bohlen einen „Song“ (vormals: Lied) aufnähme, um diesen bei der Vorausscheidung zum „Eurovision Song Contest“ (ehedem: Grand Prix Eurovision de la Chanson) zu „performen“ (früher: singen), um schließlich endgültig in den Privatsendern zu versanden.
Wir würden ihn wiedersehen (natürlich nur rein zufällig beim Zappen), zum Beispiel, wenn er im Dschungel Maden herunterwürgt, im Big-Brother-Container Heimweh simuliert oder zu guter Letzt auch noch verzweifelt versucht, Superstar zu werden.
Und: Niemand würde sich wundern. Nicht mal darüber, dass man solche Sendungen inzwischen „TV-Formate“ nennt. Schade eigentlich.
Wie uncool!