„Ihre Kenning, bitte!“

Jetzt habe ich es am eigenen Leibe erlebt: Nachschlagewerke ermöglichen chaotisches Lernen! So kann es passieren, dass man eigentlich nur nachschauen möchte, ob „kennenlernen“ die empfohlene Duden-Schreibweise ist (ja, ist sie), und dabei – ganz zufällig – ein Wort erblickt, von dem man noch nie zuvor gehört hat: „Kenning“. Wäre das hier jetzt mein Lieblingsspiel „Nobody is perfect“, würde ich folgende Erklärungen zur Wahl stellen: (A) Kenning, das = der Daumenabdruck im fälschungssicheren Personalausweis; (B) Kenning, Zachary D. = Erfinder der elektrischen Küchenmaschine; (C) Kenning® = eingetragenes Warenzeichen, Produktname der meistverkauften Körperscanner; (D) Kenning, die = zweiteilige altisländische Stabreimdichtung; (E) Kenning, der = traditionelles afrikanisches Lippenpiercing. Na, wer tippt spontan auf die richtige Lösung? Den die ist …

Die Sonne ist eine Himmelskerze
… das nordische Stilmittel: Kenning (Plural Kenningar) kommt von altnordisch „kenna“ (kennzeichnen) und ist in der altgermanischen Dichtung ein häufig verwendetes Stilmittel. Dabei werden Namen oder Bezeichnungen für Dinge oder Lebewesen durch die Kombination eines Grundwortes (das zunächst einmal wenig mit dem zu Bezeichnenden zu tun hat) und eines Bestimmungswortes ersetzt. Das Resultat ist eine bildhafte Umschreibung, in der charakteristische Eigenschaften im Vordergrund der Formulierung stehen. So wird der „Mann“ zum „Kampfbaum“, der „Bär“ zum „Bienenwolf“ (Beowulf), der „Pfeil“ zur „Wundbiene“ und das „Meer“ zur „Walstraße“.

Heute schon gekenningt?
Von der Bezeichnung „altnordisches Stilmittel“ sollte man sich jedoch nicht täuschen lassen: Die Kenning lebt, auch in unserer Sprache. Wahrscheinlich benutzt jeder von uns gelegentlich eine Kenning. Zum Beispiel beim Fluchen. Denn die kreativsten Wortbildungen findet man doch meistens unter den Schimpfwörtern. Vollpfosten, Warmduscher, Anzugaffe, Blödsack, Beißzange – sind das nicht alles Kenningar reinsten Wassers?