Die skandinavischen Länder und die Menschen, die dort leben, faszinieren Ricarda Essrich – schon immer. Mit Schwedisch ist sie quasi aufgewachsen. Nach ihrem Studium der Skandinavistik, Allgemeinen Sprachwissenschaft und Phonetik in Köln begann sie 2005 als Übersetzerin zu arbeiten. Anfang 2008 hat sie sich selbstständig gemacht. Meist übersetzt sie technische Texte aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen ins Deutsche. Häufig sind es Bauausschreibungen, Betriebsanleitungen im Maschinenbau oder – nicht ganz so trocken – Werbetexte, etwa Websites. 2011 wurde ihre erste Literaturübersetzung veröffentlicht: der Jugendroman AUTOFOKUS von Martin Nygaard. In seiner norwegischen Heimat ist Nygaard übrigens nicht nur als Autor bekannt, sondern auch als Eiskunstlaufmeister, Erfinder, Werbetexter, Drehbuchautor, Musikvideoproduzent, Hellseher, Songtextschreiber, Verleger und – genau wie Ricarda Essrich – Übersetzer. AUTOFOKUS handelt vom Erwachsenwerden und ist in seiner Sprache sehr direkt, offen, fast drastisch, vor allem wenn es um das Erwachen der Sexualität geht. Also das völlige Gegenteil eines technischen Textes und damit für die Übersetzerin Ricarda Essrich eine besondere Herausforderung …
AUTOFOKUS war, was Romanübersetzungen betrifft, dein Erstling. Worin unterscheidet sich diese Arbeit von der Übersetzung reiner Sachtexte – von der schlechteren Bezahlung einmal abgesehen?
Ricarda Essrich: »Sachtexte müssen vor allem sachlich richtig sein und den Empfänger über die Fakten informieren. Bei Bauauschreibungen etwa kommt es meist viel mehr auf den Zeitfaktor an als auf die Sprache. Zwar bedeutet es viel Arbeit, sich die oft schwierige Terminologie zu erarbeiten, aber wenn man sich erst mal ein bestimmtes Vokabular angeeignet hat, geht die Sachtextübersetzung schnell.
Literaturübersetzungen sind kniffeliger, weil man einen bestimmten Ton treffen muss. Das geht weit über das pure „In-die-andere-Sprache-bringen“ hinaus. Manchmal muss man sich sehr weit vom Text entfernen, um ihn in die deutsche Kultur übertragen zu können. Da ist viel Kreativität gefragt. Oft sitzt man stundenlang an einem Absatz und formuliert immer wieder um. Dafür hat man aber meist auch mehr Zeit als für technische Texte.«
Das ist ein echtes Kontrastprogramm. Welche Übersetzungsaufträge magst du lieber?
Ricarda Essrich: »Ich mag beides: Bei technischen Übersetzungen sieht man den Lohn der Mühen, der Abend- und Wochenendschichten am Ende in deutlichen Zahlen auf dem Kontoauszug. Und Literaturübersetzungen fordern meine Kreativität und meinen Kopf. Und ich bin unglaublich stolz, wenn ich das Ergebnis hinterher in den Händen halte. Was ich mir wünschen würde, ist eine Mischung aus gut bezahlten (und hoffentlich nicht allzu zeitkritischen) technischen Texten und einem schönen Buchprojekt, bei dem ich mich literarisch ein wenig austoben darf.«
Mit technischen Fachausdrücken musstest du dich bei AUTOFOKUS zwar weniger befassen, dafür aber mit Jugendsprache. Ist das nicht genauso schwierig?
Ricarda Essrich: »Das eigentlich Anspruchsvolle war, dass das Buch in den Siebzigerjahren spielt und auch Jugendsprache aus dieser Zeit enthält. Natürlich hätte man das 1:1 in deutsche Jugendsprache aus den Siebzigern übertragen können, aber das will ja kein Jugendlicher heute lesen. Ich musste also aktuelle Jugendsprache verwenden, die trotzdem in den „historischen“ Kontext passt. Wobei ich generell sehr vorsichtig mit der Jugendsprache umgegangen bin – zu viel davon wirkt leicht übertrieben und bemüht.«
Wie hast du recherchiert?
Ricarda Essrich: »Hauptsächlich im Internet. Aber ich hatte auch engen Kontakt zum Autor Martin Nygaard. Wenn mir etwas nicht klar war oder ich den Dreh nicht richtig bekam, habe ich ihn direkt gefragt, was er mit der Formulierung oder der Textstelle ausdrücken wollte.«
In AUTOFOKUS geht es um Freundschaft und Zusammenhalt, aber auch um Pubertät, um das Erwachsenwerden, um den Umgang mit der eigenen Sexualität. Wie schwierig war es, in der Übersetzung den richtigen Ton zu treffen?
Ricarda Essrich: »Der Umgang mit Moritz‘ Sexualität war tatsächlich eine große Herausforderung. Ich habe mich oft gefragt: Will ich das so genau und detailliert wissen? Will der jugendliche Leser das so wissen? Und darf man das so schreiben? Wie viel Sex ist erlaubt im deutschen Jugendbuch? Aber in diesen Fragen habe ich viel Rückhalt vom Verlag und auch von Martin bekommen.«
Das Buch, dessen Handlung sich in der Gegend um Oslo und teilweise auch auf einer Insel abspielt, erschien in Deutschland kurz vor den Attentaten von Oslo und Utøya. Glaubst du, das Leben der Jugendlichen in Norwegen, das in dem Buch beschrieben wird, ist danach ein anderes geworden?
Ricarda Essrich: »Ich bin nicht sicher. Eine Zeit lang ist es sicher weniger unbeschwert gewesen. Obwohl ich vermute, das ist wie mit allen großen Katastrophen und Ereignissen: Eine Zeit lang ändert sich alles, doch nach und nach kehrt man wieder zurück zu alten Gewohnheiten und Strukturen. Aber ich hoffe, es lässt die norwegischen Jugendlichen wieder mehr über Rechtsradikalismus etc. nachdenken.«
Coralita
Liebe Heike,
das klingt auf jeden Fall sehr interessant. Themen rund ums Erwachsenwerden haben mich schon immer fasziniert, vor allem als Erwachsene – wahrscheinlich, weil ichs bis heute nicht hinbekommen habe mit dem Erwachsensein. ;-)
Danke für das Interview!
Grüße ins Wochenende,
Coralita
AbidiText
Als Mutter eines Vierzehnjährigen fand ich es ziemlich schockierend, wie ein Junge in dem Alter so drauf sei kann :)))
Dir und allen anderen natürlich ebenfalls ein schönes Wochenende!